Atelierbesuch bei René Böll im Mai 2021

Im Atelier von Böll in Köln

Über sein künstlerisches Sujet und den Weg dahin

Es war eine regnerische und stürmische Woche, als ich das erste Mal zu René Bölls Atelier nach Köln fuhr. Ein typisches Frühlingswetter in Deutschland, es fiel überall frisches Grün ins Auge, als ob es gerade vom warmen Frühlingsregen gewaschen würde. Es vermittelte eine Stimmung von neuer Hoffnung und dem Aufbrechen positiver Energie, die sich in kalten, dunklen und langen Winter angesammelt hatte.

Mich empfing ein Künstler, der sich hell und simpel kleidete. Über der Maske erkannte ich seinen Blick wieder, den man aus der Öffentlichkeit und den Medien kennt. Dieser Blick kam bei mir gleichzeitig ernst, ruhig und konzentriert an. Er führte mich mit kurzer Begrüßung in sein Atelier, als ob wir uns bereits seit langem kennen würden. Diese entspannte und ruhige Haltung Bölls erinnerte mich an meine unzähligen Atelierbesuche bei bildenden Künstlern in Deutschland und China, die bereits beruflich Erfolg gehabt haben.

Sein Atelier ist lichtdurchflutet, es stehen viele Werke darin. Das Atelier ist nicht geschmückt, man findet keine Dekoration. Es stehen überall bemalte Leihwände in verschiedenen Größen, Pinsel aus Ostasien für Tuschmalerei und Flaschen mit Farbe, fertig bearbeitete Bilderrollen und Aquarelle auf kleinformatigen Büttenpapieren. Diese Ordnung vermittelt mir beim Eintritt in sein Atelier sofort den Eindruck, dass Böll künstlerisch mit einem breiten methodischen Spektrum arbeitet. Als erste Station führt der Künstler mich hin zu einem langen Holztisch. Er zeigt mir eine sechs Meter lange Bildrolle in der Technik der chinesisch traditionellen Tuschmalerei, die sich mit einem seiner wichtigsten Themen, den Cillíní Irlands, befasst. Eine Ausstellung des Werks in China ist wegen der Pandemie abgesagt worden. Auf der langen Bildrolle sehe ich eine ausdruckstarke Pinselführung zu dem historischen Thema der Kinderfriedhöfe Cillíní in Irland. An diesen von Menschenleben verlassenen Orten wurden die ungetauften Säuglinge beerdigt, die vor oder während der Geburt starben. Nach dem katholischen Glauben durften sie nicht christlich bestattet werden, wodurch sie weder in den Himmel noch in die Hölle gelangen. Stattdessen beerdigten ihre Väter die ungetauften Säuglinge heimlich in der Nacht, weil die Mütter im Wochenbett als Unrein betrachtet wurden und deswegen an keinem Beerdigungsritual teilnehmen durften. Die Kinder kamen nach der geistigen Vorstellung zu einem Ort, der als Zwischenraum zu verstehen ist, im irischen Volksmund wurde der Ort nach Cillíní genannt. Dort blieben die Ungetauften namenlos und unerlöst. Nach dieser Beerdigung war das Thema in der Familie tabu, und der Schmerz über den Verlust des eigenen Kindes wurde nie erwähnt und verarbeitet.

Diesem Thema hat der Künstler neben der Tuschmalerei auch Aquarelle und Ölgemälde gewidmet. Durch diese Vielfalt an Maltechniken bringt Böll das Thema szenisch sowie erzählerisch hervor. Selten erlebe ich als Kunstvermittlerin ein künstlerisches Sujet, dessen ästhetischen Ausdruck sich in der östlichen und westlichen Darbietungsformen ergänzt. Das Atmosphärische sowie das Emotionale werden dadurch präzise wiedergegeben, gar literarisch-erzählerisch erfahre ich die in diesem spezifischen Thema unsichtbare Dimension in René Bölls Kunst. Denn neben der Malerei widmet der Künstler sich dem Thema noch mit seinen Gedichten.

Seit den 70er Jahren beschäftigte Rene Böll sich mit der chinesischen traditionellen Tuschmalerei. Im Unterschied zu zahlreichen westlichen Künstlerkollegen studierte Böll diese fernöstliche Maltechnik systematisch, das bedeutet konsequent und ausdauernd. Er bedient sich der Kalligrafie und Tuschmalerei nicht zum Zwecke der Exotisierung seines künstlerischen Prozesses, stattdessen studierte er die fernöstliche Pinseltechnik mit tiefem Einblick in die fernöstlichen Philosophien, ohne deren Erkenntnis man die Tuschepinselführung auf dem extrem empfindlichen chinesischen Xuan-Papier nicht beherrschen kann. Die Philosophien Altchinas basieren auf religiösen Weltanschauungen wie dem Daoismus, dem Konfuzianismus und dem Buddhismus. Diese fernöstlichen Religionen stehen im Kontrast zum westlichen Glauben. Während der Mensch im westlichen Denken im Mittelpunkt steht, setzen daoistische sowie zen-buddhistische Praktiken den Schwerpunkt auf eine Selbsterkenntnis durch das Versöhnen zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Menschen und Natur. Um diese Erleuchtung der Selbsterkenntnis zu erlangen, bedarf es einer hohen Wertschätzung für die Natur. In der Lehre des Daoismus sowie des Zen-Buddhismus ist der Mensch als ein untrennbarer Teil der Natur zu verstehen. Seine Existenz ist in der Anerkennung der natürlichen Rhythmen zu erfahren. In Umkehrschluss betrachten Daoisten und Zen-Buddhisten die Naturzerstörung als Zersetzung der Menschheit. Dieser Einsicht folgend kann die Landschaftsmalerei in der traditionellen Tusche-Technik als eine Art der innenweltlichen Selbstdarstellung eines Künstlers verstanden werden. Die anscheinend widersprüchliche Hervorbringungsweise, mit hoher Konzentration den Pinsel zu führen und gleichzeitig innerlich loszulassen, ist der Schlüsselpunkt des chinesischen bzw. japanischen tuschmalerischen Prozesses. Um diese Hervorbringungsweise zu beherrschen, benötigt ein Künstler jahrelange Übung, die René Böll bereits in den 70er Jahren mit Konsequenz begann.

In der fotografischen Wiedergabe der Cillíní nahm ich die nach einer gewissen Ordnung aufgereihten Steine in der gesamten Landschaft wahr, die die einzige Spur des Menschen darstellen. Für die beerdigten ungetauften Kinder wurden keine individuell beschrifteten Grabsteine aufgestellt, sondern einfache Natursteine. Die harten Steine symbolisieren den Verlust eines Kindes für eine Familie. Das Motiv Stein als beliebtes Motiv findet man auch in der chinesisch-traditionellen Tuschmalerei wieder, in der durch einen Stein ein Mensch oder eine Geschichte angedeutet wird. In Steinen sahen chinesische Künstler Beständigkeit und Ruhe, in der sich Energien und Weisheiten ansammeln. Aus einzelnen Steinen bildet sich ein Berg, der oft ein Teil der komplexen Tuschelandschaftsmalerei ist. Die berühmten Berg-Wasser-Malereien aus China stellen einen lebendigen Rhythmus der Natur dar, und zwar immer in einer Paarbeziehung: das Ruhige und das Aktive, das Stehende und das Laufende, das Beständige und das Transformierende, das Schwere und das Leichte, das Dunkle und das Helle, das Ferne und das Zukommende. Der Sinn mag daran liegen, die ausgleichende Fähigkeit der Natur mit dem malerischen Mittel der Tusche sichtbar zu machen.

Auch auf der sechs Meter langen Bildrolle, die Böll in der Art der Tuschmalerei und Kalligrafie hergestellt hat, sehe ich kleine und große Steine. Die von ihm gemalten Steine scheinen im Unterschied zu den Steinen in den Cillíní nicht leblos. Statt als entseelte, harte, kalte Steine rezipiere ich die von Böll gemalten Steine eher als energetische Körper. Die fein detaillierten Graustufen, die in einem Pinselzug enthalten sind, machen die Seele der Steine sichtbar, die wie eine Feuerflamme flatternd tanzt. In der Tat hat Böll die Steine humanisiert, die er in den Cillíní in Irland gesehen hatte. Die Steine, die von Eltern verstorbener Kinder auf die Erde gelegt wurden, beschweren sich schreiend unter Bölls expressiver Pinselführung über ihre Namenlosigkeit. Auf die Steine setzt der Künstler an manchen Stellen noch Schädel, die an das Sterben erinnern. Durch das Sterben und gleichzeitig die Verlassenheit von der eigenen Familie wird malerisch thematisiert, dass die kleinen Kinder Doppelschmerzen erlitten. Auf dem Bild springen die Steine, liegen flach und stehen aufrecht. Sie sind in Bölls künstlerischer Hervorbringung nicht mehr Steine zur Markierung, zur Tabuisierung und zur Vergessenheit. Sondern sie sind fröhlich und hoffungsvoll wie kleine Kinder, die unser Leben und Glauben weitertragen. Durch seine ausdrucksstarke Pinselführung schenkt der Künstler dem Thema der ungetauften Kinder in Irland Aktualität. Seine Aufmerksamkeit auf die Menschen, die in der Gesellschaft eine schwache Position einnehmen, wie Kinder und Frauen, verarbeitet Böll durch seine künstlerischen Ausdrucksmittel, die er vielfältig einsetzt, als sozialpolitisches Thema. Die Bedeutsamkeit der Menschen, die für uns keinen Tag gelebt haben, sollen wir für uns bewahren. „Das ungeborene Kind prägt mich am stärksten“ so lautet es in einem Bericht einer Mutter von ihrer Fehlgeburt. Bölls Kunstserie „Namenlos“ bringt uns durch die Diskrepanz zwischen Rechthaben und Rechtgeben zum Nachdenken. Wieso können die Menschen den Anderen das Recht nehmen, die Existenzberechtigung der ungeborenen Kinder anzuerkennen, obwohl sie im natürlichen Prozess zwangsläufig existiert haben? Aus welchem Grund verweigern Menschen die natürlichen Gegebenheiten? Weil die Kinder unsichtbar sind, weil sie nie am Leben waren, weil sie auf das Leben keine Wirkung hatten? All das stimmt doch nicht, wenn ich mich an den Satz der Mutter erinnere: „das ungeborene Kind prägt mich am stärksten.“

Das Unsichtbare hat keinen Namen, aber das Namenlose war da und ist auch weiter bei uns. Seine Existenz ist vom räumlich-zeitlichen Rahmen entgrenzt. Dieser Gedanke abstrahiert sich zu einem Thema, mit dem sich jeder von uns beschäftigt: wenn wir bereit sind, unser Gegenüber anzuerkennen, werden wir von ihm akzeptiert werden. In diesem Glaubensprozess befindet sich der humanistische Ansatz: der Respekt vor der Würde des Menschen.

Die Kraft, die sich in der Tuschmalerei sowie Kalligrafie aus Fernost verbirgt, die durch eine selbstverständliche Entspannung zum Ausdruck gebracht wird, wird von René Böll wertgeschätzt. Mit dem Selbstverständlichen meine ich jedoch nicht Bedenkenlosigkeit. Im Gegenteil erlangt der deutsche Künstler das Selbstverständliche durch das tiefe Verständnis des eigenen Selbst in der Vernetzung mit seiner Umwelt. Der malerische Prozess dieser ästhetischen Praxen aus Fernost wie Tuschmalerei und Kalligrafie ist der eigentlich wichtigste Punkt der ästhetischen Rezeption, in der man die Transformation des Schaffenden zu äußerster Offenheit erfährt. Diesen Weg (Dao) begeht René Böll seit über 40 Jahren.

Von 18.Juni bis 09. Juli. 2021 wird die Kunst von René Böll zum Thema „Form und Leere. Zen-Malerei in west-östlicher Korrespondenz“ bei der Tenri Japanisch-deutsche Kulturwerkstatt in Köln ausgestellt.

Foto und Text: Xiao Xiao

Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Forschungsschwerpunkt „künstlerische Einflüsse zwischen Fernost und dem Westen in der Moderne und zeitgenössischen Kunst“