Atelierbesuch bei Lothar Zeuch

Der Blick ins Atelier von Lothar Zeuch
Foto: Xiao Xiao, 2021

Zum Werk von Lothar Zeuch

Teil I: die Rückkehr zur Ruhe

Als ich an einem warmen Märztag Lothar Zeuch in seinem Wohnatelier in Mönchengladbach besuchte, strahlte der Künstler seine Freude über meinen Besuch in einer ruhigen Art aus. So ruhig und friedlich, als ob die weltweit herrschende Corona-Pandemie ihn gar nicht beeinflussen würde. Obwohl seit einem Jahr das Thema, welchen Einfluss Corona auf unser Leben nimmt, quasi in jedem Gespräch mit anderen Menschen der erste Gesprächspunkt gewesen war, wollte ich in meinem ersten Gespräch mit Lothar Zeuch nicht mit diesem Thema beginnen: es wäre hier und jetzt nicht passend gewesen, darüber zu sprechen.

Zeuch lebt in einer ländlichen Gegend, neben seinem Haus arbeiten Landwirte, die früher Kühe hielten und sich heute um Pferde kümmern. Das Bild, dass sich bei einem Blick aus seinem Fenster präsentiert, wie die gut gepflegten Pferde auf der grünen Wiese stehen und spazieren, wirkt in meinen Augen idyllisch und harmonisch. Doch in den Augen des Künstlers strahlt das Bild eine traurige Geschichte aus, denn die Landwirte mussten aus wirtschaftlichen Gründen ihr Programm von milchbringenden Kühen auf Pferde umstellen, weil die wohlhabenden Menschen gerne Pferde als teures Haustier besitzen und zugleich der Marktpreis für Milchprodukte nicht mehr im Verhältnis zu der Arbeit mit den Kühen steht. Ich breche mit meinen Fragen über seine Kunst das kurz anhaltende Schweigen auf. Zeuch erzählt gerne von seiner künstlerischen Idee und langjährigen Entwicklung, die bis heute andauert. Nach seinem Studium des Objektdesigns begann er 1980, als Berufskünstler zu arbeiten. Ähnlich wie zahlreiche bekannte Künstler war die Figuration Ausgangspunkt für Zeuch. In seinem Archiv, das sich direkt neben dem Atelier befindet, zeigt er mir seine Frühwerke. Es waren Einzelobjekte, arrangierte Szenen mit natürlichen und industriellen Objekten sowie Landschaften, die weder menschliche noch tierische Figuren enthalten. Der damals noch junge Künstler gab die Gegenstände akribisch wieder, sodass seine Zeichnungen in meinen Augen fotorealistisch wirken. Durch diese erste Phase sind seine Augen trainiert worden, die Kraft der Durchdringung zu erlangen. Auch die strukturelle Oberfläche interessierte den jungen Zeuch, ohne sein Interesse jedoch vollends zu befriedigen; er wollte weiter in die Materie eindringen. In der Folgephase hatte Zeuch die Mission, das Unsichtbare mithilfe des malerischen Mittels sichtbar hervorzubringen. Er tauchte in das physikalische Energiefeld ein, studierte die wachsenden Strukturen von natürlichen Gegenständen oder Erscheinungen, und näherte sich der spirituellen Welt an. Er machte die mikrokosmische Komplexität zu dem Hauptthema seiner Kunst. Die Strukturen in seinen Zeichnungen und Malerei sind mehrdimensional. Er interessiert sich dafür, den Raum, der sich hinter einem Raum versteckt, aufzudecken. Wenn man will, wirkt seine Kunst unendlich. In seinem Atelier hängt ein Gedicht von Hermann Hesse:

„Stufen

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

…“

Lothar Zeuch ist seit 30 Jahren auf der Reise, die er mit der Suche nach der Ewigkeit verbringt. Seine Bilder sind seine Tagebücher. Sie dokumentieren die Reise nach einer inneren Welt, Schritt zu Schritt, immer tiefer dringt die Sicht in die innere Struktur, in der Zeuch eine geheimnisvolle, aber anmutige Welt entdeckt; dort ist er glücklich. Sein inneres Auge ist geöffnet, und das innere Licht tritt dem Äußeren entgegen. So fühle ich mich beim Anblick seiner Kunst ausgeglichen, denn sie strahlt absolute Harmonie aus. Seine Bilder sprechen nicht allein, nicht von selbst; nur in der Begegnung mit den Betrachtern können sich seine Bilder verwirklichen. Sie sehnen sich nach einem Austausch, der Schwingungen erzeugt: ein Seelenaustausch. Zeuch freut sich auf diese Schwingung, erzählt er mir gleich am Anfang meines Besuchs. Denn sie ist eine Vibration zwischen Menschen, die über die sprachliche Kommunikation hinausgeht.

In seiner aktuellen Schaffensphase sich die Bildsprache von Lothar Zeuch vom Figürlichen zum Geometrischen entwickelt. Nach seiner Auffassung ist die Geometrie allumfassend. Er setzt ästhetische Elemente wie Quadrat, Dreieck und Kreis in seinem künstlerischen Ausdruck ein. Häufig werden durch Wiederholung der Elemente die unsichtbaren Strukturen der inneren Natur und ihrer Energie optisch erfahrbar gemacht. Seine Strukturbilder wirken architektonisch und konstruktiv: darin steckt das Prinzip der Zusammengehörigkeit, kleine Bausteine bauen zusammen große Komplexe. Wenn man seine Strukturbilder aber genau betrachtet, sieht man trotz der Wiederholung der Formen Unterschiede zwischen jeder einzelnen geometrischen Figur.

Es ist eine Geduldsarbeit, teilt der Künstler mir mit Zurückhaltung mit. Seine Kunst verlangt die ewige Ruhe und Konzentration des Künstlers, und seinen Fokus auf die Kunst; der Künstler muss eine kontemplative Ebene erreichen, um das Wesentliche erfassen zu können. Die spirituelle Dimension, die die Kunst Zeuchs in sich trägt und die sie uns vermittelt, verleitet den Betrachter bei seinem visuellen Erlebnis zum Nachdenken.

In Lothar Zeuchs Kunstwelt kehrt die Ruhe zurück, die wir im normalen Alltag verloren haben. Die meditative Intensität, mit der wir uns auf das Wesentliche konzentrieren können, führt uns zu einer klaren Sicht.

Die Sonne im Frühling ist zart, aber bietet die Energie, um das Wachstum der Natur anzuregen, das in aller Ruhe geschieht.

Teil II: Suche nach dem Licht als Lebensquelle

Als ich zweites Mal Lothar Zeuch bei seinem Wohnatelier besucht habe, ist der Sonnenschein am Ende Mai spürbar wärmer gewesen. Die landwirtschaftliche Gegend, wo sich sein Atelier seit mehr als 30 Jahren befindet, duftet nach neuen Gräsern, die frisch aus der fruchtbaren Erde herausschlüpfen. Ihr Wachstum ist kräftig unterstützt worden, nachdem es in zwei Wochen dauerhaft geregnet hat.

Mit Kaffee und Tee unterhalten wir uns friedlich miteinander in seinem Wohnzimmer. Das Zimmer wirkt aufgeräumt, klar strukturiert und so still, als ob sich die Zeit anhalten würde. Sein Haus riecht leicht nach Holz, sobald ich es hineintrete. Auf vier Wände hängt es Kunstwerke von Zeuch mit unterschiedlichen Formaten, die mit verschiedenen Techniken geschaffen wurden. Mit der Stille stiften die Werke dem Zimmer Frieden und Gelassenheit. Als Gast fühle ich mich angekommen und empfinde die Offenheit, wonach der Künstler sowie seine künstlerischen Werke ausstrahlen.

Während meines Aufenthalts in seinem Wohnzimmer gewinne ich mir den Eindruck von seinen Werken, die dort hängen, dass Zeuch nach dem Licht gesucht hat. Seine Bilder wirken nicht nur ästhetisch und harmonisch, sondern auch optimistisch. Er will das Leben hoffnungsvoll darstellen, erzählt er mir in unserem Gespräch. Und dieses Leitmotiv begleitet sein Leben als Künstler gleich am Anfang seiner Karriere. Das physisch wahrnehmbare Licht, das die Sonne uns schenkt, reflektiert Zeuch in seinem impressionistischen Malstil. Von seinen unzähligen feinen Pinselstrichen, die mit vieler Geduld auf eine Bildoberfläche aufgetragen sind, um einen gemeinsamen bildnerischen Eindruck hervorzurufen, erinnere ich mich an Werken von Vincent van Gogh. Die Striche sind zwar von kleinstem Pinsel hervorgebracht worden, aber man spürt bei einer nahen Betrachtung ihre energetische Auswirkung, sodass sie selbstsicher und überzeugt bei den Betrachtern ankommen. Selbstverständlich sind sie mit der tiefsten Überzeugung von dem Künstler ins Bild gebracht, weil er in dem Prozess nicht einfach malt, vielmehr sieht er sein inneres Bild, das von dem energetischen Licht durchflutet wird, das Einem das Leben beschenkt. Lothar Zeuch malt nicht ab, was vor seinem Auge scheint; er reflektiert, wie ein Medium, das Licht von seiner inneren Welt nach Außen.

Um dieses innere Licht zu empfangen meditiert Zeuch jeden Tag, seit mehr als 40 Jahre ununterbrochen, konsequent und ausdauernd. Die Kraft aus der Meditation, damit man die Konzentration auf das Wesentlich gewinnt, erfährt er durch intensive Auseinandersetzung mit der buddhistischen Religionslehre. In den 70er Jahren herrschte in dem deutschen kulturellen Kreis die Anforderung von neuen Glaubensätzen, womit sich die Kultur und Kunst nach dem zweiten Weltkrieg erneut weiter entwickeln konnten. Die Suche nach der Antwort begannen deutsche Künstler und Intellektuellen in den parallelen Religionen vom Christentum wie dem Buddhismus und Daoismus. Die Spuren, dass die westlichen Künstler in der Zeit künstlerisch experimentiert haben, welche neue Sichtweise sie von dem buddhistischen Glauben und der daoistischen Lebensweisheit gewonnen haben, sind bei namhaften Künstlern wie Karl Otto Götz, Hans Hartung, Günther Uecker, Gerhard Richter, Pierre Soulages, Yves Klein, usw. zu finden. Jeder Künstler integriert seine Rezeption von buddhistischen sowie daoistischen Glaubensätzen nach seiner individuellen Art in seiner frei-künstlerischen Entfaltung. Während Manche sich für die geistliche Tiefe interessiert haben, haben Manche die ästhetischen Ausdrucksformen in ihrer eigenen Werkschöpfung integriert, die aus der ästhetischen Praxis der buddhistischen, zen-buddhistischen sowie daoistischen Weltanschauung stammten, wie zum Beispiel Kalligrafie, Tusche-Technik, Bogenschießen, die Lehre der Leere sowie Zufallsprinzip.

In Lothars Augen hat die hohe Konzentration auf das Wesentliche eine wichtige Rolle gespielt. Diese fokussierte Sichtweise, womit der Künstler in die innere Welt der Strukturalität eindringen kann, trainiert sich der Künstler bereits in seinem Studium des Objekt Design an der Fachhochschule Niederrhein/Krefeld, indem sich Zeuch die architektonische Denkweise aneignete. Man lernte in dem Studium, wie man die Kunstwerke für den öffentlichen Raum gestaltet. Dass die Kunst die Aufgabe hat, die unsichtbaren Beziehungen und Verhältnisse zwischen Menschen, Geschichte und Örtlichkeit sichtbar zu machen, und eine positive Energie in einer künstlerischen Darbietung fürs Gemeinschaftsleben strahlen zu lassen. Dieses Verständnis von Kunst hat Lothar Zeuch bis heute immer noch begleitet, wenn er seine künstlerische Idee zum Werk umsetzt. Der künstlerische Prozess ist nach Zeuch der Weg zur Erleuchtung, worin man das Leben als das Kostbare schätzt und seine Dankbarkeit, dass man daran teilnehmen kann, äußert.

In Zeit des immer stärker beschleunigten Lebensstils schenken Lothar Zeuchs Werke uns eine Oase, eine kleine Vegetationsfleck in der Wüste, wo das Leben leben lässt, wo uns einlädt, zu uns zurückzukehren und uns eine kleine Pause von dem ewigen Rennen zu gönnen. Der Künstler transformiert seine Erfahrungen in seiner ästhetischen Ausdrucksform, wie er die vitalen Lebensstrukturen der Pflanzen intensiv beobachtet hat, nachdem er nach dem tagelangen Wandern in Wald zurückgekehrt ist. Auch die Strukturen von physikalischen Erscheinungsbildern ästhetisiert Zeuch mit der größten Sorgfalt. All die Strukturen sind die Basis für die Vitalität und die Mobilität, wovon das Leben weitergeht.

Jedes Werk von dem deutschen Künstler Lothar Zeuch ist ein Leuchtturm, der uns den Weg zeigt, wenn wir uns vor dem dunklen Meer die Orientierung verlieren. Ich schließe meine Augen vor seinen Werken, und begrüße das Funkeln des Lichts, das meine Sicht auf das Leben einleuchtet.

Foto und Text: Xiao Xiao

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin